Warum wir keine eierlegenden Redaktionssysteme mehr brauchen

Das Tool der Vergangenheit
Meine Vorfahren haben Zeitung gemacht. Sie haben jeden Tag Papierbündel mit Texten und Bildern befüllt. War eine Zeitung gedruckt und verteilt, begann die Arbeit von vorne. Jeden Tag – sechs Tage die Woche. Viele Jahrzehnte im Bleisatz, seit den neunziger Jahren mithilfe von Computern und Desktop Publishing Systemen. In dieser Zeit entstanden auch die vollintegrierten Redaktionssysteme. Mittlerweile Software – Dickschiffe, die vermeintlich alles können. Sie können angeblich selbst die Zukunft. Meistens sind sie teuer und sie oktroyieren den Anwendern, den Redakteuren, den Setzern ihre inhärente Arbeitsweise, ihre Abläufe und Prozesse auf. In der Regel sind diese Systeme vornehmlich Print – zentriert. Wir brauchen solche Systeme nicht mehr, weil sie schlichtweg aus der Zeit gefallen sind. Es ist nicht mehr die tägliche Zeitung, die das Produkt eines Verlages darstellt. Es ist aber auch nicht die Website mit der Paywall, die das Produkt ausmacht. Es ist einzig und allein die Story, anhand derer sich die Wertschöpfung einer modernen Redaktion zu orientieren hat.
Die Tools der Zukunft
Eine Story besteht aus vielen einzelnen Beiträgen. Sie besteht aus verschiedenen Touch-Points, die den Rezipienten über verschiedene Kanäle erreichen, ganz medienspezifisch abholen und begeistern und ihn bestenfalls am Ende entlang des Sales Funnels zu den kostenpflichtigen Angeboten des Verlages leiten.
Für diese reine Wissensarbeit, für den Prozess des Erfassens von Texten und Beiträgen und für das anreichern mit Bildern und Grafiken benötigen wir keine spezifische Software. Ganz im Gegenteil. Wir benötigen Content Managementsysteme, die im höchsten Grade unspezifisch und medienneutral sind. Hier gibt es bereits eine sehr große und und übersichtliche Vielfalt an Systemen, von denen sicherlich viele geeignet sind, den Ansprüchen einer modernen Redaktion gerecht zu werden. Bei der Böhme-Zeitung haben wir uns für das Headless CMS strapi.io entschieden. Solche Systeme sind hoch unspezifisch und sind so designt, dass sie sich mit wenig Aufwand für den im Einzelfall erdachten Einsatzzweck konfigurieren lassen.
Dem CMS vorgelagert brauchen wir ein Planungssystem für die Stories und die einzelnen medienspezifischen Beiträge. Wir benötigen ein System für die Einteilung und Delegation, sowie der Sichtbarmachung der redaktionellen Arbeit, in Form von Kanban oder SCRUM. Hier nutzen wir bei uns monday.com. Das System ist ebenfalls hochgradig unspezifisch und wird bei uns im Betrieb in allen Arbeitsbereichen bis hin zur Druckerei für die Kollaboration und die Automatisierung von Prozessen genutzt. In dem Maße, in dem dieses System unspezifisch ist, lässt es sich auch und gerade im Falle einer Redaktion hoch individuell an die spezifischen Anforderungen anpassen.
Nach vorne heraus benötigen wir ganz klassisch Satz- und Produktionssysteme für die noch immer Cash-Cow Print. Des weiteren müssen wir in der Lage sein, die Schnittstellen zu allen bekannten und allen zukünftigen Social Media Kanälen zu bespielen. Abgerundet wird das ganze mit der Fähigkeit, die eigenen Websites sowie Videokanäle und Podcasts mit Inhalten versorgen zu können.
OMG Schnittstellen!
Am Ende müssen all diese unspezifischen Systeme, die für die Wertschöpfung im Bereich der redaktionellen Wissensarbeit eingesetzt werden sowie die medienspezifischen Produktions- und Distributionstools bidirektional miteinander vereint werden. Mir ist bewusst, dass dieses Thema in althergebrachten Verlagen immer wieder zu Kopfzerbrechen führt, da die bisherigen Softwareanbieter, die sich in unserer Branche über viele Jahrzehnte einen Namen gemacht haben, mit ihren vollintegrierten Systemen oftmals gar nicht die Notwendigkeit hatten, sich in Richtung andere Systeme zu öffnen. Und auch andere Systeme hatten in der Regel hochspezifische schnittstellen. Die Anbindung verschiedene Systeme war in der Regel kostspielig, langwierig und fehlerbehaftet.
Moderne, webbasierte Systeme verfügen allesamt über REST APIs (falls nicht, dann sind sie nicht modern). Diese offenen, gut dokumentierten und hoch flexiblen Schnittstellen erlauben es einem, ähnlich wie in einem Metallbaukasten, sämtliche Systeme miteinander so in Verbindung zu bringen, das dadurch hochspezifische und auf die eigene Wertschöpfung optimierte Workflowsysteme geschaffen werden können.

Fazit
Am Ende benötigen wir keine hochspezifischen, vollintegrierten Softwaresysteme mehr. Wir benötigen unspezifische, aber für ihren Einsatzzweck unschlagbar gute Software-Dienste, die über klar definierte und offene Schnittstellen einfach und flexibel, den eigenen Anforderungen entsprechend, miteinander vernetzt werden können. Dazu benötigt man etwas Know-how über den Rahmen des Möglichen (dieser Rahmen ist so groß, dass es allein deswegen schon vielen Menschen Angst macht) und man braucht genug Fantasie, um im Rahmen dieser Möglichkeiten sich die individuele beste Lösung selber und mit tatsächlich wenig Aufwand erstellen zu können.
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